In diesem Papier soll die Frage geklärt werden, ob bzw. wie sich das Lesen am Bildschirm vom Lesen
auf dem Papier unterscheidet. Diese Frage soll im Bezug auf Lesbarkeit und Lesegeschwindigkeit auf
den unterschiedlichen Medien geklärt werden. Dazu werden zu Beginn ein Paar grundlegende Begriffe
und Hintergründe der allgemeinen Textverstehensforschung erläutert. Im weiteren wird an einfache
Prinzipien zur Erleichterung des Lesens und der Wissensaufnahme aus beiden Medien herangeführt.
Mit diesem Hintergrundwissen beginnt dann die genaue Analyse des Lesevorgangs und Textverstehens
sowohl für das Medium Monitor als auch für das traditionelle Medium Papier und deren Vergleich.
Die Textverstehensforschung der Neuropsychologie beschäftigt sich mit den Vorgängen in unseren
Köpfen beim Lesen von Texten und der Abbildung des Gelesenen in eine Art internes Modell. Eine
wichtige Rolle spielen dabei unsere Interessen, Vorkenntnisse und Erwartungen.
Heiner Willenberg hat "Fünf Grundprinzipien einer neuropsychologischen Lese- und Lerntheorie"
formuliert:
1. Das Gehirn wird nicht von einer einzelnen "Leitfähigkeit" dirigiert, vielmehr sind bei allen
Aktivitäten mehrere Gehirnbereiche gleichzeitig und nebeneinander aktiv.
2. Die verschiedenen Teilfähigkeiten oder -aktivitäten ringen permanent um Dominanz. Das heisst
eine bestimmte Aktivität, etwa sprachlicher Natur, "will sich ausbreiten", will "eine Weile überleben".
Demnach benötigen neue Aktivitäten zunächst eine "Anwärmphase", um sich gegen die davor liegenden
Tätigkeiten durchsetzen und entfalten zu können.
3. Das Gehirn stellt bei der Wahrnehmung der komplexen äußeren Wirklichkeit in einer Abfolge vom
Einfacheren zum Komplexeren klar umgrenzte und eindeutige Größen her, woraus Willenberg die Forderung
ableitet, dass sich Verstehen und Lernen auf eine ähnliche Schrittfolge vom Einfacheren zum Komplexeren
stützen muss.
4. Für differenzierte Hirnleistungen wie das Verstehen von Texten ist eine Integration zum Teil sehr
unterschiedlicher und weit voneinander entfernter Hirnareale notwendig, für die sich in der Hirnforschung
der Begriff "Konvergenz" durchgesetzt hat.
5. Jedes verstehende Lesen setze eine grundsätzliche Bereitschaft des Gehirns zum Lernen voraus,
die man auch als Wachheit, Aufmerksamkeit oder Konzentration bezeichnen kann.
Für das Lesen und Lernen werden weiterhin relevante Teilfähigkeiten benötigt. Genaues Lesen erfordert
die Verbindung von Lesen und bildlicher Wahrnehmung in einer Art sehendem Lesen. Die Verknüpfung von
Lesen und körperlicher Bewegung, wie sie etwa schon durch eine bestimmte Intonation beim lauten Lesen
hervorgerufen wird, die Emotionen als "verborgene Basis des Lesens", die Bedeutung der sprachlichen
Signale beim Lesen sowie schließlich die Fähigkeit zur Verknüpfung von Textelementen zu einem kohärenten
Gesamtbild.
Generell ist noch hinzuzufügen, dass ein geübter Leser Informationen sehr schnell aufnehmen kann,
während Leseanfänger buchstabieren müssen. Das Lesen hat sich wie unsere Kultur evolutioniert,
denn wir sind vom mittelalterlichen Lesen mit Mundbewegungen im Sprachtempo zum heutigen "Überfliegen"
eines Textes gekommen, wobei die Lesegeshwindigkeit inhaltsabhängig ist. Seit E. Javal (1879) weiss man,
dass das Lesen aus Fixationen von ca. 250 ms auf einen Buchstaben mit ca. 3 Buchstaben links und ca. 14
Buchstaben rechts und den sogenannten Sakkaden, nämlich Sprüngen von 7-9 Zeichen die etwa 15 ms dauern,
besteht. Bei der Texterkennung kann das Gehirn in 10 ms maximal 4 einzelne Buchstaben, oder 2 ganze
Wörter in Form von Bildern identifizieren. Inhaltliches Vorwissen ermöglicht schnelleres Lesen durch
kürzere Fixationen. Am Satzende findet immer eine etwas längere Fixation statt.
Die Lesbarkeit eines Textes setzt sich aus Struktur bzw. Satz des Textes, Schriftwahl, Schriftgrösse
und der Schriftfarbe bzw. Hintergrundfarbe zusammen. Anhand dieser wird der Aufwand der Informationsextraktion
aus dem jeweiligen Text gemessen. Typografische und orthographische Fehler verringern die Lesbarkeit stark,
weshalb die Typografie als die Bilddarstellung der Worte eine Säule gut lesbarer Texte darstellt.
Typografische und ortografische Fehler beeinträchtigen über die Lesbarkeit unvermeidlich auch die
Lesegeschwindigkeit. Diese beschreibt die Zeit in der ein gewisser Text gelesen und verstanden werden kann,
abhängig von seiner Formattierung. Auch hier können durch klare Augenführung, optisch deutliche Wortgrenzen
und Textstruktur Erfolge erzielt werden. Die Wahl der Schriftart sollte die einer in sich harmonischen und
zum Inhalt passenden sein. Für längere Texte empfielt sich Serifenschrift, da so eine bessere Augenführung
erzielt wird. Schriftarten sollten nicht gemischt werden und für die Augenführung sind ein angemessener
Zeilenabstand (1-4 Punkt Durchschuss bei 9-12 Punkt Schrift) und angemessener Wortabstand (1/3 bis 1/4 Geviert)
notwendig. Die Zeilenlänge sollte 70 Zeichen (79-102 mm) nicht überschreiten. Bei 38 Zeichen pro Zeile wie z.B.
beim Zeitungsstil spricht man vom kurzatmigen Lesen. Auch Auszeichnungen können den Lesefluss behindern,
weshalb Formattierungen wie kursiv, fett, unterstrichen, konturiert und schattiert sparsam Verwendung finden
sollten.
Klare Gliederung entsteht des weiteren durch Textblöcke, einheitliche Überschriften und Absätze. Die
Textausrichtung sollte linksbündig ausfallen, da zentriert und rechtsbündig schwer lesbar sind. Nun bleibt noch
die Wahl zwischen Flatter- und Blocksatz: Beim Flattersatz entsteht ein lebendiges Bild, dass jedoch schnell
durch Treppen und Bäuche optisch in die Irre führen kann. Bei kurzen Zeilen bzw. langen Worten ist diese Wahl die richtige.
Für den Blocksatz gilt: Er erzeugt ein ruhiges und professionelles Erscheinungsbild. Ungeeignet ist seine Wahl
bei geringer Spaltenbreite da dann Lücken (sogenannte "Eselspfade"), also verlangsamende Wortabstände, entstehen.
Für einen erfolgreichen Einsatz des Blocksatzes werden gute Informationen zur Worttrennung und zum
Zeilenumbruch benötigt.
Der Hauptunterschied zwischen dem Lesen vom Monitor oder vom Papier zeigt sich in der oben angesprochenen
Lesegeschwindigkeit, denn vom Papier kann 10-30% schneller gelesen werden. Wichtige Unterschiede auf den verschiedenen
Medien ergeben sich bei der Lesegeschwindigkeit auch bezüglich der Anzahl von Spalten in denen Text auf einer Seite
strukturiert ist. Durch das Internet und seinen grossen Nutzen hat sich das Lesen in vielen Teilen vom Papier zum
Bildschirm verlagert.
Nach Muter und Marutto (1991) gibt es deutliche Merkmale die für die Lesegeschwindigkeits-
einbussen am Screen verantwortlich sein können. Einige dieser sind: Abstand zum Bildschirm, Blickwinkel, Auflösung,
Zeilen pro Seite usw. Tatsächlich zeigte sich in vielen Studien auch, dass mit zunehmender Auflösung des Monitors
auch die Lesegeschwindigkeit des Probanden steigt.
Die Lesegeschwindigkeit eines Textes sowohl auf dem Bildschirm als auch auf dem Papier ist zu dem abhängig von der
Anzahl Spalten in die die Information geclustert ist. Bei Onlineartikeln bevorzugen die meisten Leser in z.B. 3 Spalten
strukturierte Informationen, welche in diesem Format am schnellsten aufgenommen werden können. Das Lesen eines einspaltigen
Textes vom Papier erfolgt 32% schneller als vom Bildschirm. Zweispaltig beträgt die Differenz noch ca. 28%, während in einer
dreispaltigen Version der Vorteil des Papierlesens nur noch 11% beträgt. Mit steigender Spaltenzahl nähert sich die
Lesegeschwindigkeiten auf den beiden Medien folglich immer mehr an.
Nutzer die einspaltigen Text bevorzugen, begründen ihre Wahl mit damit verbundenen geringeren Augenbewegungen, wobei in
horizontaler Richtung ein gewisser Augenaufwand gegeben ist. So kommen sie nicht in die Versuchung einer Disorientieung oder
den Faden zu verlieren. Wer zweispaltige Information bevorzugt, begründet dies mit der Aufteilung dieser in Chunks, die
für sich einfacher zu handhaben sind oder dem vertrauten Layout von Büchern entsprechen. Dreispaltig kann der Leser noch
einfacher im Text navigieren, wodurch der schon oben erwähnte kurzatmige Text entsteht.
Die meisten Studien über das Onlinelesen kamen zu dem Ergebnis, dass lange Zeilen auf dem Bildschirm schnell in die Irre
führen können, und demzufolge viele Worte zum Teil mehrmals nachgelesen werden müssen bis das interne Modell des Gelesenen
aufgebaut werden konnte. Ausserdem "vergessen" viele Leser die sich in einem Papiertext mit dem Finger oder einem Stift
zurechtfinden, dies auf den Bildschirm zu übertragen, z.B. durch die Nutzung des Mauszeigers.
Aus oben analysierten Gründen wie der geringeren Lesegeschwindikeit am Schirm sollten Onlinedesigner einige Regeln der
Gestaltung von Onlinepräsentationen einhalten. Dies bedeutet zum einen das Verwenden von gut lesbaren Schriften in
ausreichender Grösse und zum anderen einen hohen Kontrast zwischen Text und Hintergrund zu schaffen. Auch ein Übermass
an Grafiken und Animationen behindert beim Lesen. Die Informationen mehrspaltig zu Strukturieren ist eine weitere Hilfe
auf dem Weg zur besseren Lesbarkeit.
Das Fazit ist also, dass beim Lesen auf dem Papier Details besser wahrgenommen werden können, längere Texte besser aufnehmbar
sind und die Geschwindigkeit des Lesens deutlich höher ist. Dem gegenüber ist die Erwartungshaltung am Bildschirm schnelle
Information zu ergattern, weshalb man vom "Überfliegen" der Angebote spricht, das grundsätzlich anstrengender und weniger
effizient ist.
Text der für den Druck entworfen wurde muss für das World Wide Web neu konzipiert werden. Die Transformation sollte in klare
kurze Sätze, evtl. sogar im Stichwortstil vollzogen werden und durch deutliche zusätzliche Strukturen wie Aufzählungslisten noch
ergänzt werden. Durch die Verwendung eines festen Gestaltungsrasters für die einzelnen Seiten einer Webseite, kommt noch mehr
Übersicht und Ruhe in das Gesamterscheinungsbild.
Aufgabenstellung aus "Mensch-Maschine-Interaktion", Medieninformatik an der LMU:
http://www.medien.informatik.uni-muenchen.de/de/lehre/ws03/mmi/exercise/aufsatz1.pdf
Willenberg, Heiner (1999): Lesen und lernen. Eine Einführung in die Neuropsychologie des Textverstehens.
http://www.spz.tu-darmstadt.de/projekt_ejournal/jg_05_1/beitrag/willen1.htm
Zaphiris, Kurniawan: Effects of information layout on reading speed: Differences between paper and monitor presentation.
http://www.soi.city.ac.uk/~zaphiri/Papers/hfes2001_reading.pdf
Prof. Hußmann, Heinrich (2003): "Digitale Medien", Medieninformatik an der LMU.
http://www.medien.informatik.uni-muenchen.de/de/lehre/dm/vorlesung/dm3a.pdf
http://www.medien.informatik.uni-muenchen.de/de/lehre/dm/vorlesung/dm3b.pdf
Verfasser: Helge Groß, Student im Hauptstudium der Medieninformatik an der LMU
Verfasst am: 14.12.2003