Wissenschaft Lesen

Textverständnis und Lesbarkeit

von:
Martin Schrittenloher


1.Einleitung

Wenn ein gelesener Text nicht verstanden wird, ist das nicht automatisch der Unfähigkeit des Lesers zuzuschreiben, sondern fällt in vielen Fällen auf den Verfasser des Textes zurück. Doch es ist keineswegs leicht einen Text gut lesbar und verständlich zu verfassen, will man nur ansatzweise die Regeln für gutes Textverständnis berücksichtigen. Zu viele Faktoren der Lesbarkeit spielen dabei eine Rolle, sei es die Gestaltung des Textes die wiederum abhängig von dem beschriebenem Medium (Handschrift oder Online Text ) variieren muss, oder wie Lesen überhaupt funktioniert.
Die Wissenschaft hat schon relativ früh angefangen sich mit der Lesbarkeit von Texten auseinanderzusetzen, aber gibt es auch einen Aufgabenkatalog den man abarbeiten kann um sich der Lesbarkeit eines verfassten Textes zu versichern?

2.Textverständnis

Die Psycholinguistik geht davon aus, dass das Verständnis von Texten nicht nur auf Wiedererkennen der Wörter und Entschlüsselung von Textstrukturen beruhe, sondern dass vielmehr das Erkennen was der Autor vermitteln will im Vordergrund stehe. So werden bei dem komplexen Vorgang des Verstehens zwei Hauptaspekte genannt:
Einerseits müssen die vorliegenden Zeichenformen erkannt und ihren Bedeutungen zugeordnet werden können. Ihr Platz in der Satzstruktur und die daraus folgende Satzbedeutung muss ebenfalls erkannt werden. Dieser Prozess wird "Interpretation der Daten" genannt, oder auch "aufsteigender Prozess" ("bottom up").

Dem gegenüber stehen die absteigenden Prozesse ("top down"). Darunter versteht man die in einer speziellen Situation vorherrschende Erwartung, die bereits durch die ersten gelesenen Sätze bestätigt oder modifiziert wird. "Den Fortgang der Lektüre begleitet dann ein fortwährender Auf- und Umbau eines Erwartungsrahmens, der das Verstehen mitprägt...das heißt Einflüsse aus dem Bereich der Interpretation auf denjenigen der Wort- bzw. Begriffserkennung und der Strukturerkennung bzw. -erarbeitung."
(vgl.http://www.kontrastivlinguistik.de/Linguistik/Teilgebiete/Psycholinguistik/hauptteil_psycholinguistik.html)
Doch um einen Text zu verstehen muss dieser erst einmal lesbar sein.

3.Lesbarkeitsforschung

Mit diesem Feld der Wissenschaft befasst sich die Lesbarkeitsforschung ("readability"). Diese kam zusammen mit der Kognitionswissenschaft (Kognition = höhere, geistige Prozesse des Menschen: wahrnehmen, aufnehmen, vorstellen, verstehen, erinnern, schlussfolgern, Problem lösen, planen, entscheiden) in den siebziger Jahren auf das Thema Textverstehen und dieses erfreute sich wachsender Beliebtheit bei den Forschern.
Dr. Bernd Ulrich Biere (deutscher Sprachwissenschaftler) betont, dass die Lesbarkeitsforschung als Vorstufe zur eigentlichen psychologischen Verständlichkeitsforschung betrachtet werden kann, da diese schon viel länger existiert. Schon seit den 20ern Jahren versucht die Wissenschaft in dieser Richtung die Wirkung von Texten zu untersuchen, um "objektiv feststell- und auszählbare Textmerkmale zu finden"(vgl.http://www.linse.uni-essen.de/esel/verstaendlichkeit/Lesbarkeitsforschung.htm), die in Bezug auf das Textverständnis relevant sind um schließlich Formeln zu liefern, die Messungen von Lesbarkeit ermöglichen.
Biere beanstandet allerdings an der frühen Lesbarkeitsforschung, dass die Wissenschaftler die inneren Vorgänge des Menschen vernachlässigt, und sich nur auf die Äußeren (wie zum Beispiel Lesegeschwindigkeit und nicht Textverständnis) konzentriert haben.
Als Standartwerk der Lesbarkeitsforschung wird allgemein George R. Klare’s "The Measurement of Readability" genannt. Dieser nennt als präziseste der oben genannten Formeln für Lesbarkeit die "Dale-Chall Formel" von 1948:

Xc50 = 0,1579 X1 + 0,0496 X2 + 3,6365

Xc50 steht für die Note eines Schülers im Lesen, der von dem gelesenen Text die Hälfte der Fragen beantworten kann. X1 ist Dale’s Liste der 3000 am häufigsten verwendeten Wörter, X2 ist die durchschnittliche Satzlänge.
Die "Dale-Chall Formel" sei hier nur als Beispiel erwähnt. Versuche exaktere Formeln aufzustellen gibt es sehr viele. Allein Klare stellte 1963 31 dieser Formeln und Varianten vor.
Man kann erahnen, dass diese Art von Formeln nicht immer die gewünschte Genauigkeit bringt. Es werden mehrere Probleme aufgezählt:

1. Die Zuverlässigkeit (Reliability)
2. Die Richtigkeit (Validität) - Vergleich der Formeln untereinander
3. Umsetzung von der englischen in die deutsche Sprache schwierig
4. nur objektive quantifizierbare Textmerkmale - subjektive Stilaspekte vernachlässigt

"Die Lesbarkeitsforschung ist also beschränkt auf den formal-stilistischen Aspekt der sprachlichen Oberflächenstruktur von Informationstexten" (Groeben 1982, 184).Ebendieser Norbert Groeben behauptet, dass die Lesbarkeitsforschung schon längst zu ihrem Ende gekommen sei.
Doch erfordert nicht die weltweite Digitalisierung eine erneute Betrachtung der Lesbarkeit wenn es um das Lesen digitaler Texte geht?

4.Lesen am Computermonitor

Für die Darbietung visueller Sprachinformation am Bildschirm (gleichgültig, ob im Internet oder offline im folgenden einfach Online Text genannt; vgl. http://www.devmag.net/archiv/infoletter_15_02.htm) gelten einige zusätzliche Bedingungen im Gegensatz zum Lesen auf Papier.
Dazu zählen die Bildschirmqualität, die Raumbeleuchtung und die Körperhaltung. Aufgrund dieser Faktoren kann man davon ausgehen, dass das Lesen am Monitor anstrengender ist, als herkömmliches "Papierlesen". Ausserdem überwiegt die Meinung bei den Forschern, dass Lesen am Bildschirm bis zu 40% langsamer vonstatten geht.
Grundsätzlich gilt das gleiche wie für Texte im Internet:

4.1 Webseiten lesen

Jacob Nielsen (von der New York Times als "Guru of Web Page Usability" betitelt) beantwortet die Frage, wie Menschen im Internet lesen ganz einfach wie folgt: Sie tun es gar nicht. Sie würden eine Seite eher "scannen" als diese Wort für Wort durchlesen.
Das zumindest ergab seine Studie Concise, SCANNABLE, and Objective: How to Write for the Web in der 79 Prozent der Probanden jeden neuen Webtext scannten, während nur 16 Prozent wirklich jedes Wort im Text lasen. Nielsen zieht daraus seine Schlüsse für die Gestaltung von Webseiten, insbesondere der Erfordernis von "scannbarem" Text. Die Wirkung von Textdarstellung auf die Nutzbarkeit der Seite wurde durch fünf Messungen wie folgt festgelegt:

1. Die Zeit die ein Nutzer für die Beantwortung einer textspezifischen Frage brauchte (in Sekunden)
2. Fehler auf beantwortbare Frage wurden prozentual mit eingerechnet
3. Die Erinnerungsfähigkeit anhand 5 Multiple-Choice Questions einerseits und Aufzählung aus dem Gedächtnis andererseits
4. Die Zeit die ein Nutzer brauchte um eine sitemap zu malen. (zeigt das Verständnis der Informationsarchitektur)
5. Subjektives Empfinden anhand einer 10 Punkte Skala

Anhand der Ergebnisse dieser Messungen präsentiert Nielsen die prozentuale Verbesserung der Lesbarkeit, wenn folgende Veränderungen des Textes vorgenommen wurden: Zum einen erreichte eine Verkürzung des Textes (etwa um die Hälfte) eine Verbesserung von 58%. Desweiteren lieferte ein "scannbares" Layout eine 47 prozentige, eine objektive, neutrale Sprache anstatt Fachwörtern eine 27 prozentige Verbesserung.
Wurden diese drei Veränderungen zusammen angewandt, zeigte sich eine Verbesserung von 124 Prozent.
Mit einer Verbesserung der Nutzbarkeit von über dem doppeltem erscheint die Notwendigkeit der Berücksichtigung von Nielsens aufgestellten Regeln klar, denn die "..Besucher bringen keine Zeit mit, um langatmige Beschreibungen und umständliche Erklärungen zu studieren. Der Gebührenzähler tickt, der Schreibtischstuhl ist nicht der bequemste und das Lesen am Bildschirm ist anstrengend" (vgl.http://www.webtexte-und-design.de/text.htm). Er suche nach Informationen, nicht nach Unterhaltung und von 2978 Treffern der Suchmaschine kann ausserdem nicht auf jedes Ergebnis eingegangen werden. "Eyetracking-Studien belegen zudem, dass die meisten User zuerst auf den Text schauen" (vgl. http://www.webwriting.ch/schreib/screenles.html) und erst danach auf die Bilder, was die Wichtigkeit von korrekter Texterstellung im Web nochmal verdeutlicht.
Nochmal in aller Kürze die Designregeln für Online Text: Der Text als solches wird viel zu oft unterschätzt, obwohl er das Medium ist, welche die Botschaft übermittelt. Die wichtigste Aussage sollte im Gegensatz zu Print als erstes stehen. Das Scanverhalten des Users wird unterstützt, indem man sich kurz fasst, gut gliederte Absätze liefert, sich verständlich ausdrückt, Listen erstellt und die Sätze nicht über Zeilen hinweg dehnt.

5.Zusammenfassung

Ob man nun aus dem hier beschriebenem Regeln ableiten kann bzw. soll (Texte kürzer halten, die Satzlänge reduzieren), und ob dieses den gewünschten Leseerleichterungseffekt auch noch bewirkt, wird von verschiedensten Seiten unterschiedlich ausgelegt. So sei zu Vergleichen zwischen http://www.bild.de/ und dem beliebten deutschen Onlinenachrichten-Magazins http://www.heise.de/ angeregt: Kurze Sätze und viele Bilder einerseits, und längere Texte andererseits. Aber genauso verhält es sich gerade bei Bild ja auch im Printbereich.
Generell kann man wohl festhalten, dass es beim Erstellen von Text sehr viel zu berücksichtigen gibt, was die Lesbarkeit betrifft, aber keineswegs immer auf alles eingegangen werden kann, um eine Garantie dafür zu erhalten, den Nutzer binden zu können. Der Nutzer ist nämlich ein individuelles Wesen und sein Verweilen auf einer Webseite beispielsweise hängt nicht immer nur allein von der Gestaltung des Textes ab, aber es empfiehlt sich doch sehr, eben diese Grundanforderungen zu erfüllen, um dem Leser alle Erkenntnisse der Lesbarkeits- und Textverständlichkeitswissenschaft bieten zu können.
Alles in allem halte ich es mit Jacob Nielsen und empfehle das altbewährte Konzept des KISS: "Keep it simple and stupid". Aber bitte nach den entsprechenden Regeln.


Bibliografie:

Textverständnis - Textverständlichkeit Norbert Groeben 1982

Webliografie:

http://www.linse.uni-essen.de/esel/verstaendlichkeit/Lesbarkeitsforschung.htm
http://www.useit.com/alertbox/9710a.html
http://rosenbauer.de/funktioniert_lesen.htm
http://www.webwriting-magazin.de/webwriting/blmain.htm
http://www.ard-werbung.de/showfile.phtml/bucher.pdf?foid=8752
http://www.devmag.net/projektpflege/webwriting_online_offline_texte.htm
http://www.devmag.net/archiv/infoletter_15_02.htm
http://www.webwriting.ch/schreib/screenles.html
http://rnvs.informatik.tu-chemnitz.de/proseminare/www01/doku/usability/4.html
http://www.webtexte-und-design.de/text.htm